Der Boden ist warm und trocken, kleine, spitze Steinchen und Gräser ragen aus dem festgetretenen Sand. Sie setzt einen Fuss vor den andern. Die Schuhe hat sie ausgezogen. Sie stellte sich vor, mit ihren Fusssohlen bei jeder Berührung die Erde zu küssen. Sie stützt sich gut ab mit den Händen, damit sie nicht schroff und unachtsam auftritt. Denn sie weiss sehr genau, wie sich ein Kuss anfühlen muss.
Sie ist gleich nach der Hauptstrasse der Meeresküste entlang auf diesen Weg eingebogen, nachdem sie in einer kleinen Parkbucht, kurz nach Tauro geparkt hat.
Wenige Meter von der Strasse entfernt, beginnt die kleine Schlucht, die zum Strand führt. Und da steht sie nun. Das erste kleine Plateau gleich unterhalb der Strasse eröffnet ihr zwei Welten. Die zivilisierte Welt und die Natur. Permanente Effizienz und Ruhe. Sie spielt mit diesem Zustand, ein Bein in der äusseren, das andere Bein in der inneren Welt. Und sie schaut Richtung Meer. Die Felsen links und rechts verengen sich gegen den Atlantik hin zu einem Trichter. Als würde sich alles was der Himmel zu geben hat, in der Bucht verdichten. Die ganze Energie und Schönheit des Weltalls. Sie will dorthin.
Sie überlegt sich, wie sie ihre Schritte verlangsamen könnte. Und sie erinnert sich an ein Spiel in ihrer Kindheit, bei welchem der Fänger in Gänseschrittchen angeschlichen werden musste. Das heisst, ein Fuss vor den anderen, ohne Zwischenraum. Das würde genug Zeit geben, die Füsse bewusst auf die Erde zu setzen auf dem Weg durch die kleine Schlucht, Richtung Strand.
Leuchtend grüne Pflanzen schiessen wie Blitze aus dem trockenen, sandigen Boden. Es ist deutlich sichtbar, dass die Insel auf einem Vulkan entstanden ist. Nebst den Steinen, die wie oxidiertes Eisen leuchten, ragen grosse schwarze Felsbrocken und helle Steine in die Luft, die wie riesige ausgetrocknete Schwämme anmuten. Manche Steine sehen aus, wie aus Lehm geformt, die Fingerspuren der Schöpferin noch gut ersichtlich. Der Weg ist steil, aber immer so angelegt, dass sie sich irgendwo halten, mit einem Bein eine Querstütze bilden oder auf dem Hinterteil runterrutschen kann.
Es ist warm, wunderbar warm. Die Wüste des 800 km entfernten Festlandes weht sandigen Wind auf die Insel und das Licht ist diffus. In diesem Moment scheint alles möglich. Sie setzt weiterhin behutsam einen Schritt vor den andern. Sie lässt die Gräser seitlich am Weg durch ihre Hände gleiten. Sie fühlen sich so glatt an wie Seide und manchmal auch dornig wie Kakteen. Es fühlt sich beides gut an, es gibt keinen Unterschied, kein gut oder schlecht, kein angenehm oder störend. Irgendwann erreicht sie die kleine, fast schwarzsandige Bucht. Sie sucht sich eine Nische nahe an den Felsen und legt mit Steinen einen Schutzkreis in den Sand. Die rumliegenden Steine schmeicheln sich beim Aufheben in die Handflächen. Der Atlantik hat sie rund geschliffen, bevor er sie an den Strand gespült hat. Bevor sie sich in ihren Schutzkreis setzt, bittet sie alle vier Himmelsrichtung um Schutz und Kraft. Und sie bedankt sich und segnet den Platz. Als sie sich im Kreis niederlässt und die Augen schliesst, taucht sie sogleich in eine andere Welt ein.
Sie sitzt in einem Kreis von Indianerfrauen. Lange ist es ruhig. Bis die älteste von ihnen zu sprechen beginnt. Sie bedankt sich bei ihren Schwestern für die Anwesenheit und erzählt die Geschichte vom weissen Büffelkalb. Sie kennen die Geschichte vom weissen Büffelkalb, was sie aber nicht davon abhält der Stimme aufmerksam zu lauschen. Sie wissen, worauf die Geschichte abzielt. Wie alle Geschichten ihrer Ahnen soll sie ihnen Mut machen an das Licht und den Frieden, die Liebe und Hoffnung zu glauben. Und sich nicht entmutigen zu lassen, dafür zu kämpfen, dass die Erde zum Paradies wird. Für alle. Sie spürt eine unglaubliche Verbundenheit mit den Frauen in diesem Kreis, als wären sie Schwestern, Freundinnen oder Mütter. Vielleicht wären sich alle Frauen so verbunden, wenn sie es zulassen würden. Und das ist auch der letzte Gedanke, den sie mitnimmt aus diesem Traumerlebnis. Verbinde Dich. Lass es zu, Dich verbunden zu fühlen. Öffne Dein Herz, damit sich andere mit Dir verbinden können. Und schöpfe die Kraft, die daraus entsteht.
Sie nimmt diese Liebe in sich auf und atmete ihn in jede Zellen ihres sinnlichen Körpers ein. Auf dem Weg zurück nach Hause hörte sie die Göttin sprechen: „Schenk deiner Liebe durch deine Hände weiter, mit einer Berührung jedes Steins, jedes Stücks Erde bei jedem Schritt, den du gehst.“ Und sie fühlt, dass diese ihre Achtsamkeit verstärkt und es ist ihr wohl dabei.
Später in dieser Nacht wird sie von der Göttin geweckt um das Geschehen in der Bucht zu würdigen. Das Geschenk der Verbundenheit, will gesehen,und gefühlt sein. Sie steht auf, zündet fünf Kerzen an und kocht einen Tee. Sie sitzt auf der Terrasse um drei Uhr früh, schaut auf das Meer hinaus und hört den Stimmen der Nacht zu.
Die Wellen branden heute sanft auf die Felsen, erzeugen aber dennoch eine kraftvolle Hintergrundmusik.
Linkerhand klingt es wie die Laute eines Blaseninstrumentes, von rechts hört sie die Melodie rollender Steine auf steinigem Küstenboden. Von beiden Seiten rauscht das Meer in seiner Nachtmusik- und vielleicht geschieht das alles nur, weil sie ihm zuhört.
Der Mond nimmt schon ab, das Licht der Kerzen leuchtet hell in diese Nacht. Es tanzt. Sie spürt ihren eigenen Atem-Rhythmus in der Hoffnung, dass sich eines Tages ihr Atem mit allen Frauen, die ihr Herze geöffnet haben, verbindet.
Sie bedankt sich bei der Göttin, die sie in dieser Nacht geweckt hat, um sich mit Licht und Wasser zu verbinden. Sie grüsst die Naturgeister mit einem „gute Nacht“.
Sie verabschiedet sich von der Natur- Göttin mit einem Herzensgruss.
Eine Geschichte von Mirjam und Christine